Kategorie: Buch V


Das brennende Kind

26. August 2012 - 17:59 Uhr

Als ich das brennende Kind sah, wusste ich, dass der Abend gerettet war.
Es schien ein ganz normaler Tag zu werden, noch als ich das Haus verließ. Garstig war es, übertrieben scharf schnitt der Wind in exponierte Körperoberflächen und wühlte sich seinen ärgerlichen Weg durch inakkurate Kleidungsübergänge, aber das war ja inzwischen häufig so.
Den Hut ins Gesicht und die Atmung bronchienschonend, ließ ich meine Beine den Weg zu meinem vorläufigen Ziel gehen, während mir selbst zu dem Zeitpunkt nicht viel übrig blieb, als sie dabei zu beobachten; zumal diese Krummhaltung die Angriffsfläche für die kalten Luftklingen zu verringern schien. Ich konnte noch nicht mit dem Finger darauf zeigen, aber irgendwas war falsch.
Man konnte zwar nicht sagen, dass etwas in der Luft lag – die war klar und roch fast ausschließlich nach Kälte. Auch die Optik war eigentlich okay, zumindest angemessen. Insgesamt war es eher hell als grau und die Sonne gab sich bisweilen auch die Ehre, gelegentlich ihr Antlitz durch die Himmelsauskleidung zu schieben. Also daran konnte es nicht liegen, das wäre eigentlich mehr richtig gewesen.
Es mussten die Menschen sein; umso belebter die Orte wurden, an denen ich mich aufhielt, umso stärker wurde dieses Gefühl der Unrichtigkeit. Nur konnte ich nicht herausfinden, was da so gerade schief lief, ich hatte nämlich schon seit Ewigkeiten keinen Menschen mehr angesehn.
Hatten die Leute schon immer diese tumben Blicke? War dieses abgestumpfte Anenandervorbeireden, diese absolut unaufrichtig-ziellose Kommunikation schon länger Usus? War es nicht diese zombiehafte Interaktion, die mich meinen Rückzug aus dem Gemeinwesen antreten ließ?
Nein! So war es doch nicht gewesen, eigentlich wollte ich doch nur eine kleine Pause von der Welt machen, mal klarkommen. Aber was war inzwischen geschehen und wie konnte das so an mir vorbeigegangen sein?
Die wenigen Kinder die ich sah, waren entweder gefangen in den, gleichwohl sich fortwährend wandelnden und somit unverlässlichen, Vorschriftskäfigen allderer, die gerade Lust hatten, Kommandos auszuscheiden, oder von dieser Tatsache in pathologischer Weise in einem unerträglichen Gemütszustand zwischen Apathie und Ruhelosigkeit verhaftet. Diese unstrukturiert-feindselige Willkürlichkeit, mit der ihnen die Welt gegenübertrat, hatte sich nun also in die tödliche Spirale verdichtet, ihnen, den naturgemäß Unkundigen die notwendige Orientierung, die sie instinktiv suchen, aus unklaren bis niederen Motiven vorzuenthalten.
Konsequentes Zunichtemachen von Erfahrungskonzepten, die mit Eigensinn, Freude, Abwechslung oder Entdecken zu tun haben, hat die Kinder zu verdatterten Weltresignierern werden lassen, die zur Verhinderung von Desillusionierung das Entstehen von Illusionen und das Testen von Handlungsweisen konsequent vermeiden und sich so auf eine paranoide Minimalinteraktionsroutine reduzieren. So wachsen sie dann auch heran zu solchen visions- und ethikfreien Massenbestandteilen mit Hirnkorsett, wie denjenigen, von denen sie momentan wechselweise vernachlässigt oder herumgescheucht werden.
Ich musste etwas tun, also sah ich mich um. Auf den ersten Blick schien es tatsächlich so zu sein, wie ich befürchtete.
Eines der Kinder jedoch, dessen wiederkehrende Wischbewegung über den Tisch, an dem zu sitzen es gezwungen war, ich als reinen Übersprungshospitalismus abgetan hatte, schien damit doch mehr zu bezwecken: die Bewegungen waren zwar in gewisser Weise gleichförmig, variierten aber bei genauerer Betrachtung im Andruck der einzelnen Finger und der Handfläche, der Stellung zueinander und so weiter. Das Kind schien die Oberflächenstruktur der Tischplatte zu untersuchen, die Reibung der Hand, das Gefühl, das sie verursachte.
Der Einfallsreichtum in puncto Abwandlung des Expriments war beeindruckend, zumal es scheinbar unter der Prämisse abzulaufen hatte, unentdeckt zu bleiben. Denn als es meinen Blick entdeckte, zuckte es in dem ärgerlichen Kulturreflex zusammen, alles dem Anschein nach nicht zielführende oder irgendwelchen oft unbekannten Willkürlichkeiten widersprechende sei per se falsch und folglich zu unterlassen.
Das von meinem Blick aufgescheuchte Kind verharrte einige Zeit reglos und wagte nicht, mich anzusehen. Nach einer Testphase von verstohlenen oder als Zufälle maskierten Kontrollblicken musste es feststellen, dass ich es unentwegt anschaute.
Es fasste schließlich den Mut, meinen Blick offen zu erwidern und schien nun über meine Motive nachzugrübeln, beziehungsweise mich im geistigen Zwiegespräch unserer beiden Augenpaare danach zu befragen.
Nachdem ich ihm mitgeteilt hatte, dass ich ihm nicht übelgesonnen sei, fand ich, ich müsste auch seine Forschung unterstützen, zumal diese bei ihm gefährdet zu sein schien, unterdrückt zu werden, wie seine anfängliche Schreckreaktion zu zeigen schien.
Also nahm ich ein Päckchen Zucker, das mit meinem Kaffee gekommen war, versicherte mich meines Publikums, riss eine Ecke ab und leerte den Inhalt als ein kleines Häufchen auf den Tisch.
Alsbald streckte ich meinen Zeigefinger aus und begann, kreisende Muster in den Haufen zu zeichnen, bis sich der Haufen in eine Fläche aus eben liegenden Zuckerkörnchen verwandelte, die die gezeichneten Muster im Kontrast zur blanken Tischplatte darstellte. Ein kurzer Seitenblick: ich wurde aufmerksam beobachtet.
Nun ahmte ich des Kindes Spiel mit der Handfläche auf meiner gezuckerten Tischplatte nach. Die Körnchen, die sich in selbst geschaffenen Eintiefungen wie in Furchen rollend durch meine Haut schoben, erzeugten ein angenehm kitzelndes Gefühl, das sich deutlich von dem unterschied, welches die unbewegt an meiner Haut klebenden produzierten, die mehr schleifend über die Platte kratzden und sich so in feine, unregelmäßige Schwingungen versetzten.
Die wachen, funkelnden Augen des Kindes hatten all das aufmerksam beobachtet. Der zuerst gerade Mund hatte sich in der Zwischenzeit zu einem erst leichten dann staunend offenen Lächeln geweitet, über das das Kind selbst, als es sich dessen gewahr wurde, merklich erschak, weil es seine antrainierte Tarnung verloren hatte.
Es fand sogleich seine Fassung wieder und saß erneut vollkommen unauffällig am Tisch der Triebtöter.
Ich faltete schließlich die Hände und rieb mir langsam die klebengebliebenen Zuckerkörnchen von der Handfläche, die – sie hüpfen erstaunlich gut – sich, gleichsam dem großen Finale entgegenspringend, auf dem ganzen Tisch verteilten. Ich leckte meine Zeigefingerspitze an und begann genüsslich, die herumliegenden Körnchen aufzulesen und die süße Beute auf meine Zunge zu befördern.
Es gab für das Kind keine Möglichkeit, an Zucker zu kommen, geschweige denn ohne Zwangsmaßnahmen erwarten zu müssen den Versuch nachzuexerzieren, doch ich bemerkte darüber keine Verbitterung in seinem Blick. Im Gegenteil. Einzig verblieben war ein entschlossenes Glühen in den Augen, das mich sehr beruhigte. Denn es verhieß die Gewissheit, dass das Experiment bei nächster Gelegenheit nachempfunden werden würde als einer von zahllosen Bausteinen einer ewigen Entdeckungsreise eines mit unstillbarem natürlichen Interesse ausgestatteten Wesens.
Als ich meine Exkursion in die Welt begonnen hatte, hatte es noch so gewirkt, als würde ich später heimkehren müssen, ernüchtert und erbost über die Unkultur der Stumpfheit und des Abwürgens sämtlicher selbstgesteuerter Entwicklungsfähigkeit. Doch dann entdeckte ich ja glücklicherweise diese schwelende Glut der Wissbegierigkeit in den intelligenten Augen dieses Kindes und durfte helfen, diese weiter anzufachen. Und als ich das brennende Kind sah, wusste ich, der Abend war gerettet.

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