Archiv für Juli 2011


Karwochenspecial, Weltwärts

17. Juli 2011 - 02:15 Uhr

Es machten sich also auf: der Lotse, der Navigator und der Reisende. Und dabei ist es niemals ernsthaft eine Frage, ob nun eine Reise stattfindet. Jedoch ist es auch immer so, dass, wenn der Reisende nun nicht fährt, die Reise nicht stattfindet. Nunja, die Reise fand statt, also stimmte auch die Chemie zwischen Reisendem, Lotsen und Navigator, das Vertrauen war vorhanden.
Letzteres war beileibe auch Notwendigkeit, denn man hatte sich nichts einfaches vorgenommen. Die Reise sollte bis zu dem Ort führen, wo sie gestartet hatte. Und das rechtfertigte den ganzen betriebenen Aufwand.
Beim Reisevehikel handelte es sich um eine Art Fahrrad, das man sowohl mit seinen Füßen als auch mit der Kraft seiner Gedanken umtreiben und steuern konnte und das am meisten Fahrt aufnahm, wenn es direkt auf die Sonne zusteuerte.
Der Navigator hatte den Kurs aufs genaueste berechnet, der möglichst präzise nirgendwo hinführen würde und war bereit, jederzeit eine tiefgreifende Kurskorrektur vorzunehmen, sollte das Reiseziel das verlangen.
Des Lotsen Tätigkeit ist weisen und leiten. Hin auf Besonderheiten, herum um Gefahren; er kennt und fühlt sie, wähnt sie kommen. Tiefe benötigt seine Kenntnis, wendige Erfahrung seine Intuition, Behutsamkeit sein Handeln.
Nun zum Reisenden. Wiewohl er sich nach reiflicher Überlegung eigentlich vollends dem Wirken von Lotse und Navigator verschreibt, ist ja doch er der eigentliche Meister der Reise, seiner Reise. Er wird stets die Entscheidungen für seine Reise treffen, die Leitung durch Lotse und Navigator besteht, solange sie besteht und endet, wenn sie endet.
Doch was heißt hier endet, nun sollte die Reise erstmal beginnen. Der Reisende schwang sich auf sein Vehikel und war gespannt, wo ihn die Fahrt hinbringen würde, und das obwohl das Ziel von ihm gewählt und dessen Lage ihm bekannt waren.
Es war spannend, auf Reisen zu sein, denn so sehr er sich auch klargemacht hatte, auf Reisen sein zu werden, verrückte diese Entrückung dennoch die Wahrnehmung, was das Bewutsein erstmals zur Bestätigung zwang, tatsächlich auf Reisen zu sein. Man verändert sich mit der Landschaft, die man bereist, und wenn man diesen Zusammenhang akzeptiert hat, verändert sich die Landschaft mit einem selbst.
Die Reise führte in kleine und große Entfernungen, in denen man stets große und kleine Entdeckungen machen konnte; das größte Vergnügen bereitete dem Reisenden, Dinge zu entdecken, die er schon kannte. Denn obwohl er sie schon zu kennen glaubte, waren sie doch grundlegend anders. Sie waren nämlich genau so wie sie waren und wie er sie schon kannte, denn so mussten sie ja schließlich sein.
Nachdem er sich nun Ferne und Nähe angesehen hatte und feststellen musste, dass sie beide gleich weit voneinander und von ihm entfernt waren, stellte er fest, dass es niemals möglich wäre, alle Dinge in der Welt ständig neu zu erkennen und wieder neu kennenzulernen.
Ein Zeitproblem wäre es freilich nicht, denn die Zeit hatte er vorsorglich bereits angehalten, so musste er sich nicht ständig um deren Fortgang sorgen. Ernsthaft nötig wäre es zwar wohl auch nicht gewesen, alle Dinge in der Welt zu kennen, denn wenn es nicht möglich war, wie sollte es dann nötig sein?
Aber es amüsierte ihn. Die schiere Ziellosigkeit seiner Beschäftiung mit den Dingen bereitete Vergnügen.
Das Vehikel bewegte sich derweil immer weiter. Mit zunehmender Geschwindigkeit führte der Kurs des Navigators es wie an einer Perlenschnur geradewegs in Richtung Universum. Diese starre Bewegung brachte den Reisenden der Lösung seines nicht vorhandenen Problems näher: wenn er die Schöpfung in ihren Teilen nicht begreifen konnte, so wollte er sie einfach neu erfinden.
Der Lotse freute sich, dass die Fahrt den Reisenden in Bewegung versetzt zu haben schien. Er nickte dem Navigator zu, dieser lächelte zurück und leitete den finalen Schwenk ein, den die Reise nun verlangte: direkt auf die Sonne zu.
Der Reisende erkannte seine Chance: er breitete die Arme aus, öffnete den Mund zu einem einzigen Rachen, verschluckte die Sonne, und verwandelte sich in einen leuchtenden Vertilger von allem was war, was ist, was gewesen wäre, dessen seidig glänzende Haut von feurig pulsierenden Adern durchzogen war. Eine wahnsinnige Energie war es, die mit ihm eins wurde oder mit der er eins wurde; er war eins, er war alles.
Nun ist es ja so, dass alles eben nicht genug ist, wenn es nur eins ist. Also, um nicht unpräzise zu sein: es war mehr als genug, es war ja schließlich alles. Jedenfalls – nun im Wissen, alles selbst zu sein – entschied sich der Reisende, eine Schöpfung zu machen. Zuerst schöpfte er Papier und eine Tintenfeder.
Und so wie die Tinte, die er in plastischen Hügelzügen über das Papier verteilte von diesem zu flachen, beständigen Linien aufgesogen wurde, so verfestigten sich in ihm die Gedanken und Überzeugungen, wie seine Schöpfung aussehen sollte. Er gab sich damit durchaus Mühe, denn nichts zu tun ist durchaus gut und sinnvoll, zumindest ebenso sinnvoll wie irgendetwas, aber für den Anspruch, den man an sich selbst stellt, muss man durchaus etwas tun.
So hub der glühende Vertilger also an zu schöpfen und erschuf aus einem meisterlichen Gewebe von Energiebahnen, dessen zufällig wirkende Verbindungen Materie erzeugen, die Welt, die er mit allem was gewesen war, was war und was gewesen sein würde verschlungen hatte. Sie war viel besser als vorher, denn sie war so wie immer.
Nun befand er sich also wieder in der Gesellschaft von Lotse und Navigator am Ende seiner unglaublich langen Reise am Ort wo sie gestartet waren, erschöpft und zufrieden und stieß genüsslich die Zeit wieder an.
Eine Spinne springt vorbei: “Befreie Dich vom Anspruch!”

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Zitat des Zeitpunkts “Lehre”

16. Juli 2011 - 15:31 Uhr

Pädagogik ist die Kunst, den Erwachsenen dazu zu bringen, Kind zu sein.
alter ego

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15. Juli 2011 - 15:28 Uhr

24.4.11 3:34 Ostersonntag Was interessantes gelesen, weil ich ausversehen eine Stunde zu früh aufgestanden bin: der Verlust der Benimmregeln rühre möglicherweise daher, dass für die Mittelschicht nicht länger die Orientierung nach oben richtung Adel entscheidender Faktor ist, sondern inzwischen das Proletariat psoudoikonisch in den medialen Mittlepunkt gerückt sei. Außerdem sei die Umgangslockerheit eine Hinterlassenschaft der 68er-Bewegung.
18:27 Nicht Benimmregeln zu folgen sei einfach einfacher – aber nur für einen selbst. Seinen Stuhl nicht anzustellen spart arbeit, denn es macht ja jemand anders. Trotzdem sei die Autorin nicht für eine Wiederbelebung der Regeln, findet es eher amüsant, diese Eigennützigkeit mitanzusehen. Ich sehe das etwas anders.
Viele Regeln sind sinnloser Mist, aber einige sind wie die oben skizzierte eben schon sinnvoll einzusetzen und verteilen Arbeit, Ärgernis oder Unliebsames etwas gleicher unter allen Beteiligten. Um diese ist es ein bisschen schade manchmal; der Rest kann gern in die Tonne – wobei ich zugeben muss, manchmal erst viel später einen Sinn bzw. den Sinn doch erkannt zu haben.
Es gibt aber doch noch eine Kleinigkeit zu bemerken über aussterbende Benimmregeln: verwendet man sie doch – man hat es natürlich dadurch oft schwerer oder unpraktischer – gelingt es einem bisweilen, unterschwellig einen positiven Grundeindruck zu hinterlassen, da man anderen eben unkomplizierter oder ähnliches vorkommt, bzw. eben quasi vor den Ecken und Kanten der anderen quasi unsichtbar erscheint.
Gut, leicht ist es auch, sich für jemanden abzuheben, der der eh auf sowas achtet, aber das war eben nicht gemeint, es geht um unbewusste Effekte.
Allerdings gibt es da leider noch einen: man kann oftmals ungewollt zu bestimmt, verbindlich oder unentspannt wirken, vor allem, wenn man den Fehler begeht, von anderen ähnliches zu erwarten.
Erwarte nicht, tue trotzdem, es läuft einfach immer wieder aufs gleiche hinaus. So ist das nunmal. Der Quellcode der Welt scheint halt doch immer wieder überall durch.

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FantaStick

11. Juli 2011 - 16:13 Uhr

Ich vermelde hiermit, dass mein ältester USB-Stick eine komplette Runde durch Waschmaschine und Trockner durchlaufen hat und immernoch einwandfrei funktioniert. Beeindruckend

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Wahlgesetz

3. Juli 2011 - 02:45 Uhr

Die Regierung, die – zugegeben, wie jede andere auch – eine Steuervereinfachung anstrebt (lustigerweise diese auch von einem ihrer ehemaligen Wahlkampfzugpferde auf dem Silbertablett präsentiert bekommt), diese dann – mein persönlicher Zukunftstip; falls jemand Interesse hat, ich würde hierauf große Summen wetten – nichtmal ansatzweise umsetzen wird, muss sich, da sie verbrieftermaßen illegal gewählt wurde, um ein neues Wahlrecht kümmern. Das ja schon ein guter Anfang für einen Treppenwitz, ist die nächste Stufe: sie bringt kurz vor Ablauf der Frist (wohlgemerkt der Frist zur Abgabe des gesetzgebungsmäßig abgeschlossenen, geprüften und konsensuierten Gesetzes) einen GesetzesANTRAG in die Nickmühle (gemeint ist der Deutsche Bundestag; Anmerkung des redigierenden Autors) ein, der offenbar eine Verschlimmerung der Verhältnisse nach sich zöge. Zuletzt also gewählt: Miss Verhältnisse.
Ich bitte darum, den letzten Satz noch zweimal zu denken, ich finde es lohnt sich. Gut, es war ein Satzfragment, ich sah mich nicht imstande, die Numerusthematik eleganter mit der Sachthematik zu verknüpfen. Mea Culpa?
Nein. Denn es hätte ja nicht so sein müssen. Mir muss erst noch einer erklären, warum ich dafür verantwortlich sein soll, dass ein weiteres Mal schlicht handwerklich schlecht gearbeitet wird in der Gesetzgebung. Und das ist noch gnädig. Andernfalls müsste man Vorsatz unterstellen, denn von den inzwischen eben verfassungsrechtlich admonierten Überhangmandaten profitieren ja momentan überwiegend – Überraschung! – Unionspolitiker.
Wie? Ein weiteres Mal handwerklich schlecht? Ich erinnere nur noch einmal an die Grandiosität, dass die Idioten bei einer der regelmäßigen Modernisierungsrunden des Straßenverkehrsrechts (es mussten mal wieder neue Designs für die Schilder her) in der Eile – sowas muss ja schließlich wahnsinnig schnell gehen – vergessen hatten zu erwähnen, dass die alten natürlich auch noch gelten. Daraufhin konnten Parksünder im Knöllchenfalle gegen die Gemeinde klagen, wenn sie vor einem Parkverbotsschild mit der herzförmigen Pfeilspitze campierten, und bekamen recht. Bis man, während man überlegte, wie man das aus der Welt schaffen könnte (man dachte an eine Art Ausstieg aus dem Ausstieg aus den alten Schildern), feststellte, dass aus einem Formfehler im Gesetzgebungsverfahren (!) die Novelle sowieso ungültig war – Tadaa! Und schon wieder musste man sich fragen: sind die tatsächlich nur wahnsinnig blöd oder bauen die bösartig geniale Hintertürchen…?
Ich entschuldige mich für den Exkurs, aber das war zu Illustration wichtig, denn ich erahnen schon wieder so einen Coup. Nur dass diesmal streng genommen unsere gesamte Demokratie auf dem Spiel steht. Denn käme es zu einer Wahl (einer möglicherweise vorgezogenen, weil sich einer der beiden regierenden Koalitionspartner in gelben Rauch auflöst), wäre diese momentan verfassungswidrig, folglich jedes danach beschlossene Gesetz obsolet, blöderweise auch ein neues Wahlgesetz, ein Teufelskreis. Das gilt strenggenommen auch für den Fall, dass es tatsächlich noch in dieser Legislaturperiode zu einem neuen Wahlgesetz kommt, dass mindestens so schlecht ist, wie das beanstandete. Ich bin lediglich gespannt, ob dann das BVerfG endlich mal ordentlich auf die Kacke haut und endlich mal in der Politik eine Art Unterscheidung zwischen fahrlässig und mutwillig trifft und die ganze Mischpoke heimschickt.
Ceterum censeo: Wie ich schon öfter erwähnte, ich mag die Dualität zwischen Mehrheits- und Verhältniswahlrecht in unserem System. Das verhältnis-dominierte funktioniert offenbar schon rein mathematisch nicht richtig (zumal mit den beknackten Landeslisten). Das Problem ist gelöst, wenn die Hälfte der Sitze so, die andere so vergeben wird. Wenn wir dann noch die Direktstimme (Erststimme, gleichzeitig auch Regionalstimme) vom Parteienwust entkoppeln, können wir noch dazu die Unabhängigkeit der Abgeordneten massiv stärken. Letzteres klingt erstaunlich erstrebenswert, nicht wahr? Man sollte sich aber vor Augen halten, dass wir angeblich schon eine absolute Gewissensfreiheit unserer Abgeordneten haben.
Und dieses Wahlrecht gehört dann ins Grundgesetz. Es ist eine grobe Fahrlässigkeit unserer Gründungsväter, jede einfache Mehrheit am Rückgrat der Demokratie nach Belieben rumfrickeln zu lassen. Es ist zwar schön, mit 18 gewählt haben zu dürfen; ein fader Beigeschmack bleibt allerdings, wenn man bemerkt, dass die Koalition, die das ermöglicht hat wiederum damit nur anhand demographischer Prognosen ihre Chancen auf Wiederwahl vergrößern wollte…
Ein letztes noch zu Fahrlässigkeit, Mutwilligkeit und auf die Kacke hauende Verfassungsgerichte. Sanktionen! Es muss doch möglich sein, anhand von Protokollen nachzuvollziehen, wer wann und wie oft Anträge abgelehnt hat, die eine rechtzeitige Wahlrechtsdebatte einleiten wollten; es ist auch bekannt, welche Gremien die Tagesordnung beschließen. Bestrafen: persönlich oder parteilich, pekunär oder ideell. Recherchiert ein so angesehenes Gericht und befindet beiläufig, dass diese oder jene Personen oder Parteien oder Fraktionen oder Institutionen für die Verzögerung (mit)verantwortlich waren, hätte das nach meinem Dafürhalten durchaus einen Effekt, selbst, wenn es alle beträfe.

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