Archiv für Dezember 2012


Psychos Bestiarium – Kontemplanierraupe

23. Dezember 2012 - 17:20 Uhr

Kontemplanierraupe, die:
Larvenform einer Art der Exoskelett tragenden Gattung der Paar-Mehr-Hufer, die früher fast ausschließlich in Tibet auftrat, seit 1720 dort allerdings zuerst scheinbar verschwunden war (darum existiert noch eine weitere Bezeichnung: Tranzenditaria protectorata HARRER). Die Identität mit der Art Theocrata sympathicans PITT. konnte 1959 zweifellos belegt werden, als die Raupe mittels ->Exilregionierung rematerialisiert werden konnte.
Die K., welche nur aus ihrem Ei schlüpft, wenn es entweder über längere Zeit ohne Gefährdung durch Kältestress oder Fraßfeinde in einer ruhigen Umgebung lag oder – dieses Paradoxon konnte noch nicht aufgeklärt werden – vom ->Sisyphoskäfer auf immerwiederkehrenden Routen bewegt wird, zeichnet sich durch sparsame, ebenmäßige Bewegungen aus, mit denen sie sich zu unterschiedlichsten Orten bewegt, an denen sie rastet, um sich dort von Eindrücken, Zusammenhängen, Wahrnehmungen, Ästhetik und Inhalten ernährt und diese Nährstoffe (auch verarbeitete) mit Symbionten austauscht. Abhängig von der Menge und Zusammensetzung dieser Nahrung entwickelt sich aus der K. nach der Verpuppung entweder die degenerierte Form der parasitären Fanatikermotte, die zeit ihres Lebens versuchen wird, K.n an die immergleichen Orte zu führen und ihr Fortkommen zu anderen Orten zu unterbinden und sie in jedem Fall unter ihrem Ernährungsniveau zu halten sucht (sie arbeitet hierbei auch gelegentlich mit der Indoktrinationsschabe zusammen, die frischgeschlüpfte K.n zusammentreibt und mit einem übelriechenden ->Einheitsbrei anfüttert). Im anderen Falle kann – vielseitige Ernährung meist vorausgesetzt – aus der Puppe der Entfalter schlüpfen, eine prächtige Lebensform, die mentale Entropie umkehrt und symbiotische Beziehungen mit fast allen bekannten Lebensformen herzustellen imstande ist. Auf diese Weise übt der Entfalter eine ordnende Wirkung auf die Ökosysteme aus, die er bewohnt, steht aber wegen seiner großen Prächtigkeit unter starkem Jagddruck durch einige archaische Lebensformen wie dem ->Dummspecht, dem ->Korrumpanten, dem ->Ausbeuteltier und den Salärmanderarten ->Politlurch und ->Potentatenechse. Das wendige Tier schafft es jedoch recht häufig zu flüchten, so dass gelegentlich noch sehr alte Exemplare aufgefunden werden, die den Nachstellungen entgehen konnten.
Verwechselt werden kann der Entfalter mit dem ->Desinformetterling, der auf den ersten Blick oft schwer zu unterscheiden ist, sich jedoch dadurch verrät, dass er im irrigen Versuch, K.en zu erschaffen, Ameisen zusammenbindet, bis sich diese wieder befreien und ihn bisweilen anschließend verspeisen. Trifft er auf einen Entfalter, fällt der Desinformetterling in eine Schockstarre und wird nicht selten Opfer eines Ausbeuteltiers oder einer Horde zusammengebundener Ameisen.

Kommentieren » | Kulturelles

Nummernkonten

12. Dezember 2012 - 23:08 Uhr

Ich bin nicht sicher, ob ich schon mal über das Schweizer Schwarzgeld gesprochen habe, trotzdem ist mir ein Lichtlein aufgegangen, das ich für teilenswert halte: je nachdem, wen man fragt oder liest, wird einem entweder mitgeteilt, dass mit dem Abkommen die Steuersünder mehr oder eben weniger für ihr hinterzogenes Geld zahlen, als sie müssten, wenn sie sich anzeigten.
Natürlich sind diejenigen der ersten Version der Schäuble und diese Schlumpf-Ministerin aus der Schweiz und beide halten es für unmöglich, jemals einen besseren Vertrag machen zu können. Leider glaub ich weder das, noch denen überhaupt etwas (also von der Schlümpfin weiß ich das nicht, aber ich nehme es mal an). Darum glaub ich gern den anderen und hab mir auch meine Gründe zusammengesucht, damit ich mich damit wohl fühle.
Erstens weiß ich nicht, wie man anonym Steuern eintreiben soll. Ehrlich nicht. Aber ich hätte dafür relativ bald die Idee, dass man vielleicht die Anonymität nutzen könnte, um Steuern nicht abzuführen, weil wenn der eine nicht schauen darf, entscheide ich ja, was ich zeige.
Zweitens: wenn man sich drüber streiten kann, ob die Pauschbesteuerung zu zu kleinen Besteuerungen führen kann, könnte man sie auch einfach erhöhen. Denn wenn ich schon eine Amnestie mache, so als Gesellschaft meine armen Reichen wieder in die Arme nehme und ihnen sage, sie können mit dem gestohlenen Geld jetzt auch wieder uns daheim über den Tisch ziehen, dann kann ich doch wohl die Regeln dafür selber machen und muss nicht Angst haben, ihnen zuviel abzunehmen, dass sie das nicht als Strafe wahrnehmen. Warum das der Schäuble nicht will, weiß ich nicht, er sagts mir auch nicht, darum glaub ich es ihm nicht. Die Schweizerin schützt ja wenigstens die Grundlage eines ihrer Wirtschaftszweige. Falls das der Schäuble auch tut – ach, wenn er das nur sagen würde! – dann würden wir endlich erfahren, warum die Sozialschmarotzer, die die Gesellschaft benutzen wollen, trotzdem aber nicht deren Teil sein wollen soo wichtig für uns sind.
Drittens kaufe ich gerne weiterhin CDs. Gut, ein kleinwenig ein Hoheitsrechtsverletzungsgschmäckle hat es schon, aber das hat das mit dem Steuerhafen auch. Gut, wir haben das Geld ja selber durch die Grenze gewunken oder garnicht danach gesucht, trotzdem ist es ja unstrittig unseres und der Vertrag ändert auch nichts daran, dass Kapital in Form von Geld viel zu mobil ist. Und diese konzeptionelle Widersinnigkeit des Systems des freien Kapitalverkehrs löst so ein Kuhandel auch nicht, aber da er ja leider alternativlos ist, ist mit den zwei Beteiligten ja nicht an eine Bearbeitung eines der echten Probleme zu denken. Dann möchte ich ihnen aber auch verwehren, so zu tun, als sei das Problem gelöst.
Ich glaube, diese Drei Punkte reichen vorerst.

Kommentieren » | Politisches

Dieser Matussek

6. Dezember 2012 - 00:21 Uhr

"Cabane ist nicht der einzige Charisma-Coach. Charisma ist selten wie Gold und mindestens so geheimnisumwoben wie die Coca-Cola-Formel. Jeder will Charisma. Jeder will die Fähigkeit, Menschen zu bewegen, um auf einer Woge der Zuneigung durchs Leben zu segeln."
Matthias Matussek, Das Lodern von Innen, Der Spiegel 46/2012

Ich mag ihn ja nicht so unvoreingenommen, den Matussek; er schreibt angenehm, kenntnisreich, immer mit Referenz auf einen aufgeklärt-katholischen Konservativismus, aber er zieht oft aus unglaublich weitschweifenden Parallelen merkwürdige Schlüsse.
Aber der obige Absatz ist was wirklich schönes: es ist dies einer der Absätze gegen Ende des zweiten Drittels des Leitartikels dieses Spiegel. Und er hat mein müdes Hirn entzückt. Es ist einer von diesen Absätzen, die den Spiegel zum Spiegel machen, denn er ist absolut unnötig. Die sparsamen Informationen in ihm sind auch in den Absätzen drumrum enthalten, aber seine Aufgabe ist ja schließlich, zu personalisieren.
Er soll ein Gefühl von Bekanntheit zwischen Leser und Inhalt bzw den Personen des Artikels schaffen, emotional binden. Alles in Ordnung, langweilig ist lesichnicht, gelegentlich bleibt leider nichts übrig, wenn man die Emotion wegspült.
Doch auch das ist nicht das Thema; es war so ein optisches Phänomen. Ich verzichte darauf, den Absatz in textsatzidentischer Reproduktion darzustellen, sondern vertraue darauf, dass es trotzdem rüberkommt. Mich hatten die Cs gefangen, und zwar so deutlich, dass ich ins grübeln gekommen bin, ob das Zufall war.
In einem Artikel über Charisma, wo betriebsbedingt einige Male mehr ein C am Anfang eines Wortes steht, ist es da wahrscheinlich, dass es sinnvoll ist, just in dem Moment, indem eine Frau Cabane auftritt auch noch völlig ohne Zusammenhang über die Coca-Cola-Formel zu schwadronieren? Im orginalen Satzbild füllt noch dazu das Gold mit seinem formähnlichen Anfangsbuchstaben eine Lücke in der sonst die Symmetrie allzusehr ins stolpern geraten wäre. Cabane, Coach und Charisma bilden die Linke Ecke, deren Gegengewicht Charisma und Gold liefern, dann in der Mittelzeile des Absatzes stehen, Coca, Cola und Charis- – was soll ich da anderes sagen als "Chapeau!"?
Anschließend die Abrundung mit der schwärmerischen Prosapoesie um die schwingenden Reimpole bewegen und segeln.

Das alles spornt mich enorm an, meine Darmtätigkeit zu befeuern; denn dann werde ich in den Genuss kommen, weiter zu lesen.

2 Kommentare » | Kulturelles