Der Knopf

Er saß wie immer auf seinem Stuhl vor dem Schaltpult. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann er hierhergekommen war, noch viel weniger, warum.
Eigentlich war er schon immer hier und saß vor seinem Schaltpult. Außer wenn seine Schicht vorbei war und er durch den kleinen Gang in das kleine Zimmer ging, wo sein Bett steht, der kleine Tisch, auf dem sich immer wieder aufs neue eine Mahlzeit befand, in diesen kantinenmäßigen Tellern, die aus so kleinen Näpfchen bestehen. Darauf befand sich auch immer so eine Plastikglocke, die wahrscheinlich das Essen warm halten soll, das hat auch immer geklappt eigentlich. Es ist immer angenehm appetitlich, allerdings in seiner Eintönigkeit. Die Plastikglocke war auch am nächsten Tag wieder ganz, als er sie am Vortag wütend zerbrochen hatte.
Dann war da eigentlich nur noch sein Regalbrett mit den Büchern und und dem vergilbten Foto von der jungen Frau. Er hatte inzwischen vergessen, wer genau es war, aber sie war mit ihm verwandt, das wusste er noch. Sie war also entweder seine Frau, seine Tochter oder seine Mutter in Jugendjahren, denn wäre sie entfernter verwandt, wüsste er das sicherlich.
Seine Bücher hatte er noch nie ernsthaft gelesen, vielmehr nur immer wieder mal in einem geblättert, meistens in dem Pilzbestimmungsbuch, weil da einige Abbildungen drin sind. Das ist etwas schöner, als in den anderen Büchern zu lesen, wo nur Text drin ist und die allesamt nicht wirklich sein Geschmack sind. Sie sind nunmal da. Etwa 5 Bücher sind es. Irgendwas von Kafka, die Bibel, ein Krimi und eine Märchensammlung. Vielleicht noch etwas, aber daran kann er sich momentan nicht erinnern. Seine Aufgabe ist ja schließlich nicht, irgendwelche Buchrücken auswendig zu lernen, sondern vor seinem Schaltpult zu sitzen und Wache zu halten. Zumindest war und ist er davon immer überzeugt.
Das ist kein einfacher Job. Genauergesagt hatte er ihn vielleicht bis jetzt noch nicht verstanden. Zumindest grübelte er immernoch über die Instruktionen nach.
Damals waren irgendwelche wichtigen Leute dabei gewesen, als er hierher gebracht wurde.
Er war anfangs etwas schockiert über die Schmucklosigkeit des Raumes. Die charakterlos eierschalig getünchten Betonwände ohne Fenster gaben dem irrwitzig großen Schaltpult zwar genug Raum, allerdings übte die Konturlosigkeit im gleichförmigen Neonlicht sofort eine beklemmende Unbehaglichkeit aus.
Über den ganzen geschäftig-zeremoniellen Ablauf seines Amtsantritts hinweg kam er auch nicht dazu, sich darüber Gedanken zu machen, warum es so eines ausnehmend großen Schaltpultes bedurfte, um darauf lediglich einen einzigen Knopf anzubringen.
Auch dessen Funktion wurde ihm nicht klar; sie ist es bis heute nicht. Er weiß sehr wohl, dass ihm bedeutungsschwer erklärt wurde, es könnte eines Tages – was Gott verhüten möge – nötig sein, dass er den Knopf betätige, um “großes Unheil von der Menschheit abzuwenden”, doch fehlte ihm, zumindest rückblickend, die Information, woran er das dann erkennen solle.
Trotzdem würde er wohl einen riesen Ärger kriegen, falls er einen Fehler machen würde. Was bewirkt denn eigentlich dieser dumme Knopf? Darüber hat keiner auch nur ein Sterbenswörtchen verloren. “Wendet großes Unheil von der Menschheit ab”!
Um ehrlich zu sein wirkt dieser merkwürdige Bunker mit dem Knopf manchmal wie ein Raketenkontrollraum. Also hat er vielleicht den Finger am Abzug. Aber wie sollte das denn bloß Unheil von der Menschheit abwenden?
Außerdem ist es überhaupt total unlogisch und auch unverantwortlich, jemanden völlig ohne Informationen am Abschußknopf sitzen zu lassen. Woher sollte er denn wissen, wann es nötig wäre zu feuern?
Keine Anzeige, kein Telefon, nichteinmal eine Kontrollleuchte, nichts. Das kann ja fast garnicht sein. Aber es ist so, die Zeiten, in denen er täglich stundenlang jeden Quadratzentmeter des Schaltpultes, des Bodens, schließlich sogar die Decke untersucht hatte, ob sich nicht doch irgendwo ein versteckter Schalter, eine Klappe oder wenigstens irgendwas befand, was irgendeinen Aufschluss bringen könnte, waren schon längst vorbei.
Da war definitiv nichts. Also konnte es wohl keine Abschusskontrolle sein. Das wäre blanker Irrsinn. Es muss was anderes sein. Nur, was konnte es denn sein. Seine Suchaktionen förderten ja auch keine Anhaltspunkte zutage, dass er in irgendeiner Form überwacht wurde. Dass es ihm trotzdem nie gelungen war, eine der Personen zu treffen, die offenbar hier Ordnung machten bzw. eine frische Mahlzeit hinstellten, wenn er sich im anderen Raum befand, hatte ihn schier wahnsinnig gemacht.
Nachdem er wochenlang rastlos nach immer neuen Mustern und in so unregelmäßigen Abständen wie möglich die Zimmer in Unordnung brachte und vom einen ins andere ging, kehrte er irgendwann deprimiert wieder zu seinem Schichtdienst zurück, von dem er sich oft nichtmal sicher war, ob er ihn sich nicht doch selbst auferlegt hatte, es gab ja keine Uhr und kein Signal, nichts, das einen Anfang oder ein Ende einer Schicht kennzeichnen hätte können. Und wenn er in seinen Raum ging, war dieser aufgeräumt und es befand sich eine neue Mahlzeit darin. Wenn er nur antäuschte und bald in den Raum zurückkehrte, fand er ihn unverändert vor. Aber niemals war es ihm gelungen, jemandem zu begegnen, und sei es auch nur indirekt durch Anzeichen einer eilig unterbrochenen Aufräumaktion.
Wie dem auch sei, er saß nun wieder regelmäßig an seinem Pult, das war seine Aufgabe, was war denn auch zu tun? Trotzdem, in all der Zeit, die er nun schon hier war, war ihm kein sinnvolles Szenario eingefallen, das erforderte, dass einer quasi Wache hält, während er keinerlei Informationen über das zu bewachende Objekt erhält.
Unheil von der Menschheit abwenden. Klingt ganz schön großkotzig. Wie war er eigentlich dazu gekommen? Schon wieder so ein unbefriedigendes “Keine Ahnung”. Erinnerungen an sein Leben vor seiner Zeit hier waren in seinem Gedächtnis so gut wie nicht vorhanden.
Und von dem was er wußte, konnte er sich auch nicht sicher sein, ob er sich nur irgendwelche Klischees eingebildet hatte, Häuschen in der Vorstadt, spielende Kinder im Garten, jeden Morgen mit Aktenkoffer aus dem Haus, abends nach Hause, das Essen steht auf dem Tisch, Sonntag Nachmittag Kaffee und Kuchen.
Es konnte wirklich nichts Wichtiges sein, was er hier tat, dafür war es offensichtlich zu merkwürdig hier beziehungsweise er zu uninformiert oder unqualifiziert.
Dass er trotzdem seit Jahren unter Freiheitsentzug stand, konnte auch genau das bedeuten: er stand unter Freiheitsentzug, war ein Gefangener.
Aber was war sein Vergehen. Da war beim besten Willen nichts. Woran sollte er sich auch erinnern, wenn er sich nicht erinnern konnte. Hatte man ihn unter Drogen gesetzt, hypnotisiert? Aber wozu dann diese Amtseinführung mit der Ansprache vom Unheilabwenden? Oder hatte er sich das nur eingebildet?
Unsinn! Das war genauso real wie die momentane Realität. Und die ist ja das eigentliche Problem.
Denn wenn das hier Strafvollzug ist, dann ist das eindeutig eine der aufwendigsten Formen, die er sich vorstellen konnte. Sowas zieht man doch nicht für einen einfachen Gefangenen auf, dieses Theater mit der absoluten Isolation.
Politischer Gefangener! Das wäre natürlich ne Nummer! Geheimdienst! Oder vielleicht war er dieser Typ, der weiß, wie man Wasser in Benzin verwandeln kann und die Ölmultis krallen sich ihn und stecken ihn – in einen Bunker? Purer Nonsens!
Das ist wahrscheinlich der Grund, warum er sich an nichts von früher erinnern kann. Er hat bereits jede mögliche Geschichte seiner selbst unzählige Male durchgedacht, so dass er schlichtweg nicht mehr herausfinden kann, welche nun eigentlich die echte ist.
Fest steht wohl nur eines: entweder man will ihm die Freiheit rauben, indem man sie ihm aufs Ausgefeilteste entzieht, während man ihm mittels des Knopfes eine Restfreiheit suggeriert oder man hat ihn verantwortungsvoll mit umfassendem Vertrauen ausgestattet an einen höchst wichtigen Posten gesetzt, dessen Erfüllung notwendigerweise aller dieser Entbehrungen bedarf, möglicherweise bis hin zu seiner absoluten Unkenntnis seiner Aufgabe.
Nun, wie hatte er sich in diesen beiden Fällen zu verhalten? Als Grundsatz für beide Fälle entschied er, sich ausdrücklich und erkennbar nach freiem Willen handelnd verhalten und dadurch seiner charakterlichen Stärke Ausdruck verleihen zu wollen.
Wenn er hier gefangen war, musste er davon ausgehen, zu Unrecht eingesperrt zu sein, da er sich keiner sträflichen Handlung bewußt war, noch sich vorstellen konnte, zu so einer fähig zu sein. Schon garnicht konnte er sich an einen Process erinnern und nur durch das Urteil eines solchen konnte er sich ja rechtmäßig hier befinden.
Als Retter der Menschheit oblag es ihm – diesen Anspruch stellte er an sich selbst – seine Aufgabe verlässlich und gewissenhaft auszufüllen. Das musste in diesem Falle bedeuten zu handeln, wenn Handeln geboten war. Und offenbar hatte er die Entscheidung darüber selbst und unabhängig von äußeren Einflüssen zu treffen.
Scheiß drauf! Unter allen Szenarien war die einzige Möglichkeit, die Freiheit seines Handelns auszudrücken, eben zu handeln, auch wenn dieses Handeln möglicherweise determinierter sei als Nicht-Handeln, zumal seine einzige Handlungsmöglichkeit darin besteht, diesen Knopf zu drücken.
Er war jetzt überzeugt, er würde diesen Knopf drücken, egal ob es nun zur Konsequenz haben sollte, der Menschheit einen Dienst zu erweisen oder sie auszulöschen oder nur sich selbst in Ausführung perfider psychologischer Selbstmordhinrichtungsmethoden perverser Beamter eines totalitären Statsapparates.
Er wird drücken, definitiv, und damit dieser unerträglichen Situation ein Ende machen, in der er inzwischen nurnoch mit Mühe unterscheiden konnte, ob er träumte oder wachte, da er in beiden Zuständen mittlerweile ausschließlich damit beschäftigt war, wie ein Tiger im Zoo vom einen in den anderen Käfig zu schleichen und sich darüber das Hirn zu zermartern, wie es dazu gekommen war oder warum.
Einmal ging er noch in seinen Schlafraum. Eine Mahlzeit, eine – erstaunlich tiefe – Nachtruhe wollte er sich noch genehmigen.
Er stand auf, zog sich in Ruhe mit größter Sorgfalt an, machte sein Bett und widmete jedem Detail seiner kargen Behausung noch einen Moment seiner ungeteilten Aufmerksamkeit. Er ging hinüber, nahm auf seinem Drehstuhl Platz und wischte, wie immer, mit dem Staublappen über das Pult, rückte den dort befindlichen Block und Bleistift zurecht. Nun war es so weit.
Er drückte den Knopf und wendete damit großes Unheil von der Menschheit ab.

Kategorie: Allgemein, Buch III 11 Kommentare »

11 Reaktionen zu “Der Knopf”

  1. psycho

    Diesmal ist der Kommentar länger als das Posting. Es ist das erste Mal, dass ich mich ernsthaft an sowas gewagt habe, ich hatte es in meinem Büchlein vorskizziert, nachdem die Grundidee schon einige Tage in meinem Kopf war, fertigskizziert, nachdem noch einige weitere Gedanken meinen Kopf über Tage gekreuzt und verlassen hatten. Und war mit meinem Ergebnis nicht zufrieden.
    Diesmal wollte ich eine vollwertige Version veröffentlichen, darum habe ich mich über die grundsätzliche Vorgehensweise, unkorrigierte Abschriften zu veröffentlichen, hinweggesetzt und veröffentliche diesmal die Version 1.0, während ich die Version 0.1, also die Abschrift aus dem Büchlein (mit den üblichen bekannten Randnotizen in Fettdruck) hier als Kommentar:

    24.11.9 8:06 Kopfweh seit gestern Er saß wie immer auf seinem Stuhl vor dem Schaltpult. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann er hierhergekommen war, noch viel weniger, warum.
    Eigentlich war er schon immer hier und saß vor seinem Schaltpult. Außer, wenn seine Schicht vorbei war und er durch den kleinen Gang in das kleine Zimmer ging, wo sein Bett steht, der kleine Tisch, auf dem sich immer wieder aufs neue eine Mahlzeit befand, in diesen kantinenmäßigen Tellern, die aus so kleinen Näpfchen bestehen. Darauf befand sich auch immer so eine Plastikglocke, die wahrscheinlich das Essen warm halten soll, das hat auch immer geklappt eigentlich. Es ist immer angenehm appetitlich, allerdings in seiner Eintönigkeit. Die Plastikglocke war auch am nächsten Tag wieder ganz, als er sie am Vortag wütend zerbrochen hatte.
    Dann war da eigentlich nur noch sein Regalbrett mit den Büchern und und dem vergilbten Foto von der jungen Frau. Er hatte inzwischen vergessen, wer genau es war, aber sie war mit ihm verwandt, das wusste er noch. Sie war also entweder seine Frau, seine Tochter oder seine Mutter in Jugendjahren, wäre sie entfernter verwandt, wüsste er das sicherlich.
    Seine Bücher hatte er noch nie ernsthaft gelesen, vielmehr nur immer wieder mal in einem geblättert, meistens in dem Pilzbestimmungsbuch, weil da einige Abbildungen drin sind, das ist etwas schöner, als in den anderen Büchern zu lesen, wo nur Text drin ist und die allesamt nicht wirklich sein Geschmack sind. Sie sind nunmal da. Etwa 5 Bücher sind es. Irgendwas von Kafka, die Bibel, ein Krimi und eine Märchensammlung. Vielleicht noch etwas, aber daran kann er sich momentan nicht erinnern. Seine Aufgabe ist ja schließlich nicht, irgendwelche Buchrücken auswendig zu lernen, sondern vor seinem Schaltpult zu sitzen und Wache zu halten.
    9:25 Das ist kein einfacher Job. Genauergesagt hatte er ihn vielleicht bis jetzt noch nicht verstanden. Zumindest grübelte er immernoch über die Instruktionen nach.
    Damals waren irgendwelche wichtigen Leute dabei, als er hierher gebracht wurde. 9:58 Er war anfangs etwas schockiert 26.11.9 19:19 über die Schmucklosigkeit des Raumes.
    Die charakterlos eierschalig getünchten Betonwände ohne Fenster gaben dem irrwitzig großen Schaltpult zwar genug Raum, allerdings übte die Konturlosigkeit im gleichförmigen Neonlicht sofort eine beklemmende Unbehaglichkeit aus.
    Über den ganzen geschäftig-zeremoniellen Ablauf seines Amtsantritts hinweg kam er auch nicht dazu, sich darüber Gedanken zu machen, warum es so eines ausnehmend großen Schaltpultes bedurfte, um darauf lediglich einen einzigen Knopf anzubringen.
    23:58 Auch dessen Funktion wurde ihm nicht klar. Er weiß sehr wohl, dass ihm bedeutungsschwer erklärt wurde, es könnte eines Tages – was Gott verhüten möge – nötig sein, dass er den Knopf betätige, um “großes Unheil von der Menschheit abzuwenden”, doch fehlte ihm, zumindest rückblickend, die Information, woran er das dann erkennen solle.
    Da tritt mal wieder diese ganze Idiotie des bürokratischen Apparats zutage, wenn er, aus Sicherheitsgründen abgeschottet vom Rest der Menschheit, an herausragend wichtiger Position in seinem Bunker sitzt und weder ordnungsgemäß über seine Aufgabe aufgeklärt wurde, noch eine 27.11.9 17:58 hilfreiche Dokumentation vorhanden ist, wo er sich seiner Pflichten nochmals versichern könnte.
    Trotzdem würde er wohl einen riesen Ärger kriegen, falls er einen Fehler machen würde. Was bewirkt denn eigentlich dieser dumme Knopf. Darüber hat keiner auch nur ein Sterbenswörtchen verloren. “Wendet großes Unheil von der Menschheit ab”!
    Um ehrlich zu sein wirkt dieser merkwürdige Bunker mit dem Knopf wie ein Raketenkontrollraum. Also hat er vielleicht den Finger am Abzug.
    Aber wie soll das denn bloß Unheil von der Menschheit abwenden?
    Außerdem ist es überhaupt total unlogisch und auch unverantwortlich, dann jemanden völlig ohne Informationen am Abschußknopf sitzen zu lassen. Woher sollte er denn wissen, wann es nötig wäre zu feuern?
    19:35 Keine Anzeige, kein Telefon, nichteinmal eine Kontrollleuchte, nichts. Das kann ja fast garnicht sein. Aber es ist so, die Zeiten, in denen er täglich stundenlang jeden Quadratzentmeter des Schaltpultes, des Bodens, schließlich sogar die Decke untersucht hatte, ob sich nicht doch irgendwo ein versteckter Schalter, eine Klappe oder wenigstens irgendwas befand, was irgendeinen Aufschluss bringen könnte, waren schon längst vorbei.
    20:49 Da war definitiv nichts. Also konnte es wohl keine Abschusskontrolle sein. Das wäre blanker Irrsinn. Es muss was anderes sein. Nur, was konnte es denn sein.
    In all der Zeit, die er nun schon hier war, war ihm kein sinnvolles Szenario eingefallen, das erforderte, dass einer quasi Wache hält, während er keinerlei Informationen über das zu bewachende Objekt erhält.
    Unheil von der Menschheit abwenden. Klingt ganz schön großkotzig. Wie war er eigentlich dazu gekommen? Schon wieder so ein unbefriedigendes “Keine Ahnung”. Erinnerungen an die Zeit bevor er hier waren so gut wie nicht vorhanden.
    Und von dem, was er wußte, konnte er sich auch nicht sicher sein, obe er sich nur irgendwelche Klischees 26:13 eingebildet hatte, 1.12.9 20:26 Häuschen in der Vorstadt, spielende Kinder im Garten, jeden Morgen mit Aktenkoffer aus dem Haus, abends nach Hause, das Essen steht auf dem Tisch, Sonntag Nachmittag Kaffee und Kuchen.
    Es konnte wirklich nichts wichtiges sein, was er hier tat, dafür war es offensichtlich zu merkwürdig hier bzw. er zu uninformiert oder unqualifiziert.
    Dass er trotzdem seit Jahren unter Freiheitsentzug stand, konnte auch genau das bedeuten: er stand unter Freiheitsentzug, war ein Gefangener.
    Aber was war sein Vergehen. Da war beim besten Willen nichts. Woran sollte er sich auch erinnern, wenn er sich nicht erinnern konnte. Hatte man ihn unter Drogen gesetzt, hypnotisiert. Aber wozu dann dieses Brimborium mit dem Unheilabwenden? Oder hatte er sich das nur eingebildet?
    Unsinn, das war genauso real wie die momentane Realität. Und die ist ja das eigentliche Problem.
    Denn wenn das hier Strafvollzug ist, dann ist das eindeutig eine der aufwendigsten Formen, die er sich vorstellen konnte. 21:00 Man würde definitiv nicht für irgendeinen Gefangenen so einen Aufwand betreiben. das geht schon bei so Kleinigkeiten los, dass er, obwohl er sich völlig frei zwischen seinen beiden Räumen hin und her bewegen kann – keine der Türen hatte er jemals abgeschlossen vorgefunden – und sie jeweils immer, egal wie er sie hinterlassen hatte, immer wieder akkurat aufgeräumt beziehungsweise mit einer Mahlzeit ausgestattet vorfand, niemals nach dem ersten Tag auch nur eine Menschenseele getroffen hat.
    Politischer Gefangener! Das wäre natürlich ne Nummer! Geheimdienst! Oder vielleicht war er dieser Typ, der weiß, wie man Wasser in Benzin verwandeln kann und die Ölmultis krallen sich ihn und stecken ihn – in einen Bunker? Purer Nonsens!
    Das ist wahrscheinlich der Grund, warum er sich an nichts von früher erinnern kann. Er hat bereits jede mögliche Geschichte seiner selbst unzählige Male durchgedacht, so dass er sich nicht mehr herausfinden kann, welche nun eigentlich die echte ist.
    21:46 Fest steht wohl nur eines: entweder man will ihm die Freiheit rauben, indem man sie ihm aufs ausgefeilteste entzieht, während man ihm mittels des Knopfes eine Restfreiheit suggeriert oder man hat ihn verantwortungsvoll mit umfassendem Vertrauen ausgestattet an einen 22:00 höchst wichtigen Posten gesetzt, dessen Erfüllung notwendigerweise aller dieser Entbehrungen bedarf.
    2.12.9 13:45 Fahrrad holen Nun, wie hatte er sich in diesen beiden Fällen zu verhalten? Als Grundvoraussetzung für beide Fälle entschied er, sich ausdrücklich und erkennbar nach freiem Willen handelnd zu verhalten und dadurch seinem charakterlichen Wert Ausdruck zu verleihen.
    Wenn er hier gefangen war, musste er davon ausgehen, zu Unrecht eingesperrt zu sein, da er sich keiner sträflichen Handlung bewußt war, noch sich vorstellen konnte, zu so einer fähig zu sein. Schon garnicht konnte er sich an einen Process erinnern und offenbar wurde ihm auch das Urteil eines solchen nicht ausgehändigt, sonst würde es sich ja hier finden.
    9.12.9 16:28 Als Retter der Menschheit, oblag es ihm – diesen Anspruch stellte er an sich selbst –, seine Aufgabe verlässlich und gewissenhaft auszufülle. Das musste in diesem Falle bedeuten, zu handeln, wenn Handeln geboten war. Und offenbar hatte er die Entscheidung darüber selbst und unabhängig von äußeren Einflüssen zu treffen.
    Scheiß drauf! Unter allen Szenarien war die einzige Mglichkeit, die Freiheit seines Handelns auszudrücken, zu handeln, auch wenn dieses handeln möglicherweise determinierter sei als Nicht-Handeln, zumal seine einzige Handlungsmöglichkeit darin besteht, diesen Knopf zu drücken.
    Er war jetzt überzeugt, er würde diesen Knopf drücken, egal ob es nun zur Konsequenz haben sollte, der Menschheit einen Dienst zu erweisen oder 17:29 sie auszulöschen oder nur sich selbst in Ausführung perfider Selbstmordhinrichtungspläne perverser Beamter eines totalitären Statsapparates.
    Er wird drücken und zwar jetzt, und dieser unerträglichen Situation ein Ende machen, in der er inzischen nurnoch mit Mühe unterscheiden konnte, ob er träumte oder wachte.
    Einmal ging er noch in seinen Schlafraum. Eine Mahlzeit, eine erstaunlich tiefe Nachtruhe wollte er sich noch genehmigen.
    Er stand auf, zog sich in Ruhe mit größter Sorgfalt an, machte sein Bett und widmete jedem Detail seiner kargen Behausung noch einen Moment seiner ungeteilten Aufmerksamkeit. Er ging hinüber, nahm auf seinem Drehstuhl platz und wischte, wie immer, mit dem Staublappen über das Pult.
    Nun war es so weit. Er drückte den Knopf und wendete damit großes Unheil von der Menschheit ab.

  2. Tobias Wichtrey

    Tolle Geschichte! Hat mich teilweise etwas an die Geschichte von Heinlein erinnert, wo von einem Mann erzählt wird, der jeden Tag von der Arbeit heimkommt und aber sich partout nicht erinnern kann, was und wo er eigentlich arbeitet.

    Nachdem du den Text ja als überarbeitete Version veröffentlicht hast, möchte ich auf zwei Fehler und eine Sache, über die ich gestolpert bin, hinweisen:

    In folgenden beiden Sätzen ist was falsch. Da fehlen Wörter, oder sind zu viel, oder so. (Fragliche Stelle jeweils mit * markiert.)

    “Erinnerungen an die Zeit bevor er hier* waren in seinem Gedächtnis so gut wie nicht vorhanden.”

    “Er hat bereits jede mögliche Geschichte seiner selbst unzählige Male durchgedacht, so dass er sich* nicht mehr herausfinden kann, welche nun eigentlich die echte ist.”

    Über folgenden Satz bin ich gestolpert: “Damals waren irgendwelche wichtigen Leute dabei, als er hierher gebracht wurde.” Ich hätte “waren … Leute dabei gewesen” erwartet. Vielleicht tu ich dir Unrecht, und du hast absichtlich diese Zeit gewählt, um auszudrücken, dass der Protagonist sich im Laufe der Erzählung erst wieder daran erinnert, wie das damals war. Oder die späte Stunde hat mein Zeitgefühl vernebelt. Aber jedenfalls bin ich über diesen Satz gestolpert.

    Müde Grüße
    Tobi

  3. psycho

    Vielen Dank für die konstruktiven Hinweise. Die ersten beiden Sachen sind ja offensichtlich falsch und ich werde mich auch gleich damit befassen, sie zu verbessern.
    Sie könnten auch von einer falschen Übertragung des Hand- ins Maschinenschriftliche(n) herrühren, was ich nun aus Faulheitsgründen nicht überprüfen will.
    Auch im dritten Fall täuscht Dich wohl Dein Gefühl nicht, wenn ich so genau drüber nachdenke. Der Satz klingt mit Deiner Korrektur deutlich runder, das gefällt mir. Möclicherweise war mir das auch nicht aufgefallen, denn je höher man den Grad an Umgangssprachlichkeit annimmt, der zu Grunde liegt, verringert sich die Falschheit.
    Wir sind also nun bei Version 1.1.

    Außerdem, diese Geschichte, auf die Du Dich beziehst, ist mir so jetzt nicht bekannt, sie klingt allerdings sehr unterhaltsam.

  4. Tobias Wichtrey

    Wenn du die Geschichte lesen willst, sie heißt “The unpleasant profession of Jonathan Hoag”, oder auf Deutsch “Die Söhne des Vogels”. Die inzwischen auch schon über 60 Jahre alte Geschichte wird übrigens verfilmt oder soll verfilmt werden, wie ich gerade lese. IMDB.com nennt 2011 als Veröffentlichungsjahr.

    Das Buch, das ich habe, das die Geschichte enthält, enthält noch weitere ganz interessante Geschichten von Heinlein. Unter anderem die Geschichte eines Zeitreisenden, der sein eigener Vater und seine eigene Mutter ist, außerdem sein Arbeitgeber und sein Mörder. Ich weiß gar nicht, ob darin überhaupt eine andere Person als er auftaucht.

  5. Der Knopf | Tarphos

    […] Ein kurzer Literaturhinweis: Eine wunderbar lesenswerte Kurzgeschichte gibt es bei Psyfessional. […]

  6. Manuel

    Na, das nenne ich doch mal eine schöne Ablenkung von meiner Magisterarbeit. Warum erfahre ich von deinem Blog erst heute, Michi 🙂 (Bin gerade zufällig beim Stöbern über Tobi zu dir gekommen)Seit die schöne Bank der Künste verstummt ist, sind mir da scheinbar ein paar Meisterwerke entgangen?

    Zum Knopf:
    Sehr schön geschrieben, Respekt. Da steckt ein echter “Kafka” in dir 😉 Seinen Stil, gerade was sein Spiel mit der personalen Erzählsituation anbelangt ist gut getroffen. Auch die Spannungskurve hat mir gut gefallen – hab sogar extra die letzte Zeile mit dem Finger abgedeckt, um nicht “aus Versehen” mein Leseerlebnis zu versauen.

  7. psycho

    Das ist natürlich Kritik, wie man sie liebt, ich danke Dir!
    Zwar ist es üblicherweise nicht Schwer, Leute von ihrer Arbeit abzuhalten, aber wenn man dann auch noch gefallen hat, hat es sich gelohnt.
    Zweifel sind allerdings angebracht, ob es sich um einen echten Kafka handelt. Es ist bei weitem nicht so rund, die Sprache eher tapsig, die Grammatik willkürlich (und falsch), und der Inhalt… ich weiß nicht, ist nicht selbst diese Menge an Happy End deutlich zu viel?
    Wie dem auch sei, ich lasse solcher Art Bemerkungen gerne weiterhin meinen Bauch pinseln (wenigstens hiervon habe ich mehr als er) und zufrieden lächeln, meine unterwürfige Huldigung steht ja bereits in den Text gegossen.

    Von Deinem Blog weiß ich schon länger, muss aber feststellen, dass ich die (auch oft sehr genossene) Lektüre sträflich vernachlässigt habe, ich muss meinen Newsreader mal auf vordermann bringen, dass ich schön auf dem laufenden bleibe, was die Welt so schreibt. Es trifft sich also hervorragend, dass es Dich hier vorbeigetrieben hat.

    Die Bank der Künste. Ja, bitte erwähne sie häufig. Auch hier tut es gut zu hören, dass man sich daran erinnert. Dass sie verstummt ist, hast Du fein bemerkt, für tot erklärt ist sie nicht. Wir arbeiten fieberhaft daran, unsere Absichtserklärung (anno 2008) nicht zu vergessen, sie beizeiten wieder zum sprechen zu bekommen. Sie soll sich in diesem Zuge auch nach 2.0 (auch wenn die Welt wohl lange auch darüber schon hinaus ist) upgegradet werden, denn irgendwie war sie ja immer so gedacht.
    Hasta victoria siempre!

  8. Tobias Wichtrey

    Michi, du darfst nicht den Fehler machen, den ich auch zu gerne mache: Versuch nicht, alles fehlerfrei und perfekt zu polieren. Sonst gehts dir wie Duke Nukem Forever: http://www.wired.com/magazine/2009/12/fail_duke_nukem/all/1

  9. psycho

    Hehe, ich denke, so schlimm wie im bezeichnteten Fall wirds schon nicht werden (zumal ich ja schon veröffentlicht habe), auch ist die Technik bzw. die Anforderungen in diesem Fall überschaubar und so gut wie statisch.
    Ich skizziere ja nur das Problem, dass es für einen, der – wie ich an mir feststellen muss – konsequent aus der Realität abdriftet (teils willentlich, teils nicht), irgendwann schwierig wird zwischen den Extremen “liebloses Reproduzieren von Immergleichem ohne persönlichen oder inhaltlichen Fortschritt” und “aussichtsloses Streben nach einem nicht erreichbaren Ideal”.
    Meine Veröffentlichungsstrategie ermöglicht mir beides, beinhaltet damit aber auch die inhärente Gefahr, in eine Richtung haltlos abzudriften.

  10. Manuel

    Zum Thema Bank der Künste 2.0:
    Sind die mails an deine Webmaster-Mailadresse bei dir angekommen, Psycho?

    The Duke lives! 😉

  11. psycho

    Ja natürlich, das Haus verliert nichts. Ich habe mich nur aus Kostengründen durch Stillschweigen der Antwort meines Mitstreiters angeschlossen.
    Kostengründe? Ja, wir wissen, doch, dass wir für jede nicht versandte Email ein Atomkraftwerk abschalten könnten, weil Google dann nicht die Inhalte filtern muss, um sie dem BKA mit freundlichen (aber streng geheimen) Grüßen vom CIA in einer Zusammenfassung und 20 Millionen Links zu jedem Schlagwort, deren wichtigste (Dysfunktion, Viagra, länger heißeren Sex mit feuchten Fotzen) sofort von den dortigen Mitarbeitern nachrecherchiert werden müssen – Non-Stop-Flüge nach Thailand haben eine beschissene CO2-Bilanz –, um dem Innenminister (ich habe interessanterweise komplett verdrängt, wer der Nachfolger von dem Mann im Rollstuhl ist) eine fundierte Aktennotiz schreiben zu können.
    Diese Energieeinsparung ist auch deshalb von entscheidender Wichtigkeit, weil besagter Mann mit dem zum Fortbewegungsmittel gepimpten Möbelstück inzwischen dazu übergegangen ist, fortwährend elektronische Steuererklärungen zu studieren und Auffälligkeiten (neben zotigen Witzen) an die US-amerikanische Flugsicherungsbehörde zu mailen.
    Entschuldige bitte, jedoch gelobe ich, bald die Zielseite mit einigen Profilschärfe-Gedanken nachzufüttern.


Kommentar schreiben? Gerne, nur zu!

Kommentar