Schleichender Sittenverfall

Gut, schleichend ist das nicht mehr, Sitte ist ein antiquiertes Wort, aber immerhin: dass das Parlament seine Aufgabe nicht mehr erfüllt und mittels ergebnisoffener Debatten und unabhängigen Abgeordneten als gesellschaftsabbildendem Querschnitt ein Bindeglied zwischen fachlicher Politik und gesellschaftlichen Meinungsbefindlichkeiten herzustellen eingestellt hat, ist ja bekannt. Es treffen sich lieber ein paar Parteichefs, handeln was aus und lassen die 600 dann abnicken. Dass diese systemwidrige Verselbstständigung von Abläufen üblicherweise als “politische Spielregeln” abgetan wird, ist auch wahr, keinesfalls neu und auch dieses neuerliche Beispiel nicht überraschend, ich möchte es aber trotzdem als Facette in mein schon länger entstehendes Bild hinzufügen.

Westerwelle tritt also nicht wieder als Parteichef an. Das ist in Ordnung, das darf er auch; is mir ja egal! Nur, was er danach noch verlauten ließ, kommt mir komisch vor. Er sagt, wenn danach ein anderer Vorsitzender wird, der auch im Bundeskabinett ist, dann wird der Vizekanzler (ansonsten bleibt er es).

Das kann er aus mehreren Gründen nicht einfach so sagen: es ist nämlich nicht so, dass die zweitgrößte Partei einer Regierungskoalition den Vizekanzler zu stellen hat; es ist schon garnicht so, dass überhaupt irgendein Parteivorstand den Vizekanzler zu benennen hat, der wird als Mitglied des Kabinetts vom Bundeskanzler bestimmt und vom Bundespräsidenten ernannt. Und falls das doch so wäre, hehe, selbst dann könnte er das nicht so sagen, weil er zu dem Zeitpunkt, wenn der neue da ist, schon nicht mehr Parteichef ist und es ihn einen Scheißdreck angeht, wer dann zum Vizekanzler gemacht wird, Depp!

Dieses ganze politische Spielgeregel offenbart nur eines, nämlich, dass es an Transparenz fehlt. Denn würden sich die Parteien auf das Parlament verlassen (das kann man, indem man es bestimmungsgemäß benutzt), müssten sie nicht so viel vorher ausmachen in diesem Koalitionsvertragsmist, denn man könnte ja mit nein stimmen, wenn die Regierung einen miesen Gesetzesvorschlag macht, man kann Mißtrauensvotieren, wenn der Kanzler abdreht und so weiter.

Wenn aber der Typ – wohlgemerkt, lediglich in seiner Funktion als Parteichef – hergehen kann und den nächsten Vizekanzler küren, dann war also schon klar, dass die Kanzlerin da nicht mitzureden hat, das kann allerdings nur klar sein, wenn man vorher ein Quid-pro-Quo geschlossen hat über Posten und Inhalte; und wenn man letzteres tut, muß man faktisch das Parlament außer Funktion gesetzt haben, indem man schon vor Debatten und Abstimmungen klarstellt, was herauszukommen hat.

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